ButerbrotMeine Tochter Leonie kam im Sommer 2004 zur Welt. Unser Sohn war damals 7 Jahre alt. Die Diagnose Trisomie 21 erhielten wir als Leonie 1 Woche alt war. Wegen eines angeborenen Herzfehlers konnte ich sie leider nicht stillen. Leonie verbrauchte beim Trinken mehr Energie als sie aufnehmen konnte, also pumpte ich etwa 5 Monate die Muttermilch ab und gab sie ihr in der Flasche. Das funktionierte auch ohne Probleme. Danach bekam sie Flaschennahrung und anschließend begannen wir mit breiiger Nahrung. Ich kochte das Essen selbst oder fütterte auch aus Gläschen. Leonie aß die zubereitete Nahrung ohne Probleme. Die ersten Gläschen mit ein paar Stückchen drin waren auch noch kein Problem. Doch dann wurde sie krank und wollte von diesem Zeitpunkt an keine stückige Kost mehr. Wir dachten uns, dass das bestimmt wieder vorbei geht. Doch sie lehnte kategorisch alles ab, was nicht breiig war.

Uns fiel bei Leonie schon immer auf, dass sie nichts in den Mund nahm, das man auch nur im entferntesten essen konnte. Brotkrumen fand sie besonders schlimm, da sie dann Krümel im Mund hatte und diese dann akribisch von ihr entfernt wurden. Dabei machte sie ein Gesicht, als wolle man sie vergiften. Aber an Plastiktüten zu lutschen, fand sie total super. Wir haben wirklich alles versucht, um Leonie essbare Dinge unterzujubeln. Ihre Antwort war immer die gleiche, sie warf die Sachen so weit weg, wie sie konnte. Von allen Seiten bekamen wir gut gemeinte Ratschläge und wir probierten auch alles Mögliche aus. Doch Leonie ist ziemlich stur und hat sich gegen alle Offensiven gewehrt. 
Natürlich haben wir auch die medizinische Seite nicht außer Acht gelassen. Unsere Logopädin hat den Mund untersucht, das Kauen und Schlucken beobachtet und den Transport der Nahrung im Mund. Alles war völlig in Ordnung. Danach waren wir in Homburg in der Uniklinik und haben Leonie dort untersuchen lassen. Das gleiche Ergebnis. Alles O.K. Wir waren natürlich froh, dass sie keine organischen Fehlbildungen oder ähnliches hatte, aber unser Essproblem war noch da. Mittlerweile war Leonie fast drei Jahre alt und viele meinten dann: „Warte mal, wenn sie in den Kindergarten geht und die anderen Kinder essen sieht, wird das schon, ihr werdet sehen.“ Ja, wir sahen es. Leonie wollte kein Brot oder irgendetwas Festes essen. So langsam wurden wir immer zermürbter. Überall mussten wir ihr Essen mitnehmen, da Leonie mittlerweile so festgefahren war, dass sie nur noch ganz bestimmte Dinge aß. 
Bei unserer Logopädin begannen wir mit Esstraining. Leonie sollte an feste Nahrung und verschiedene Geschmacksrichtungen gewöhnt werden. Es war einfach nur frustrierend. Leonie bekam z.B. ein Stück gekochte Kartoffel in den Mund geschoben und über die Backenzähne gerieben. Sie wehrte sich und kratzte sich anschließend jedes noch so kleine Stückchen Kartoffel aus dem Mund. Dabei weinte sie. Ich war mittlerweile mit meinen Nerven ziemlich am Ende. Leonie konnte doch nicht ewig nur Brei essen. Kein Brot, keine Kartoffeln, Nudeln oder Pizza. Es war mir auch egal, ob sie jeden Tag Nudeln essen würde. Hauptsache irgendwas essen! Auch die gut gemeinten Ratschläge gingen mir jetzt auf die Nerven.
Irgendwann haben die Logopädin und ich beschlossen, dass sie von nun an nur noch das zu Essen bekommt, was der Rest der Familie auch isst. Jede Mahlzeit wurde zur Tortur. Leonie hat den Teller voller Wut von sich geschoben. Nach etwa 6 Wochen hat sie dann lustlos im Essen rumgestochert. In dieser Zeit hat sie sich ausschließlich von Kakao, Quark und Pudding und rohen Zwiebelstückchen (diese sind zwar sehr gesund, aber eher ungewöhnlich) ernährt. Also beschloss ich, dass sie dann doch lieber wieder ihren Brei bekommt. Doch ich hatte die Rechnung ohne Leonie gemacht. Sie verweigerte jetzt auch diese Nahrung und der Schuss ging total nach hinten los. Wir waren nicht weitergekommen, nein wir hatten einen riesengroßen Rückschlag erlitten.
Jetzt war ich soweit, wir brauchten professionelle Hilfe! Sich das einzugestehen war nicht einfach, denn wir hatten das Gefühl versagt zu haben. Mir war nun alles Recht. Nach einigen Recherchen beschlossen wir Kontakt mit einer Klinik in Maulbronn (Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie, Kinderzentrum Maulbronn gGmbH, EMail:Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., www.kize.de )aufzunehmen, die sich u.a. auf Essprobleme spezialisiert hat. Wir bekamen Unterlagen zugeschickt, die wir ausfüllten. Es dauerte etwa 6 Wochen bis wir Antwort aus der Klinik bekamen und wieder Monate bis wir einen Termin zur Vorstellung in der Klinik hatten. Leonie wurde untersucht und wir berichteten, was wir bisher alles unternommen hatten. Ich hatte alle Arztberichte dabei und der Arzt merkte schnell, dass wir diesen Schritt nicht voreilig getroffen hatten. Er war skeptisch, denn Leonie war mittlerweile schon 6 Jahre alt und hatte noch nie in ihrem Leben Brot gegessen von Wurst ganz zu
schweigen. Ihre damalige Esspalette beinhaltete eine ganz bestimmte Sorte Quark, Pudding, ab und zu Tomatensuppe (nur Tomatenmark, Ketchup und klare Brühe evtl. mit Fleischgläschen), Semmelbrösel, verschiedene Gewürze (z. B. scharfer Senf, Maggi, grobes Salz), Bananen, Mehl und natürlich Zwiebeln. Super Mischung, oder? Der Arzt setzte uns auf die Warteliste. 
MaulbronnAm 02.02.2011 war es dann soweit. Wir fuhren für 4 Wochen nach Maulbronn. Ich fühlte mich, als ob ich auf die Schlachtbank gebracht wurde. Aber ich war zu allem bereit. Die letzten Monate waren einfach nur noch furchtbar, für die ganze Familie. Auf das Schlimmste gefasst, bezogen Leonie und ich unser Zimmer. Einfache Einrichtung, das Bad auf dem Flur, aber mir war das egal. Die anderen Leute mit ihren Kindern waren nett und jeder hatte irgendein Problem. Im Laufe des ersten Tages begann die Behandlung. Leonie hatte Logopädie (wobei hier der Schwerpunkt auf dem Essen lag), Ergotherapie und Physiotherapie. Außerdem war eine Psychologin da (vor allem um die Eltern zu unterstützen). Mit dem zuständigen Arzt und den Therapeuten war vereinbart worden, dass wir bei Leonie nur auf der Hungerschiene weiterkommen würden. Ich signalisierte dem Arzt, dass ich dazu bereit war. Er stufte Leonie als interessant und äußerst schwierig ein. Was sollte ich davon halten? Ich hatte vorsorglich alles Trink und Essbare meinem Mann mit nach Hause gegeben. So konnte ich Leonie ohne schlechtes Gewissen zu haben oder lügen zu müssen sagen, dass ich nichts für sie zu essen habe. Das war für mich wichtig, denn ich wollte meine Tochter nicht belügen. Es begannen sehr harte Tage, vor allem für Leonie. Sie bekam beim Abendbrot ein Quarkdessert (nicht ihr gewohntes) und schob es weit weg. So begann das Hungern von Leonie. 
Am nächsten Tag zum Frühstück bekam sie eine halbe Tasse Kakao. Den ganzen Tag hat Leonie nichts gegessen, zu trinken gab es nur Mineralwasser. Auch abends hat Leonie nichts zu sich genommen. Die nächste Nacht war sehr unruhig, Leonie hatte eindeutig Hunger. Auch am nächsten Morgen gab es nur eine halbe Tasse Kakao für sie. Es war hart meine Tochter so zu sehen, doch ich blieb hart und bot ihr alles möglich zu essen an. Vergeblich. Leonie wollte lieber hungern. 
Die Physiotherapiestunden beschreibe ich nicht, da sie zum Erfolg beim Essen nicht beigetragen haben, obwohl sie mit Sicherheit an anderer Stelle erfolgreich waren und für Abwechslung gesorgt haben. Auch die Therapeutin war sehr nett.
Anders sah es da bei der Logopädin und Ergotherapeutin aus. Leonie liebte die Ergotherapeutin vom ersten Augenblick an (Leonie mag lange blonde Haare). Und Gottlob hatte sie diese. Sie wurde zu meinem Engel. Hier ist noch anzumerken, dass alle Therapeuten und der Arzt in ständigem Kontakt standen und sich untereinander austauschten. Es war ein ständiges Miteinander, auch mit mir. Uns wurde auch schnell klar, dass Leonie irgendetwas essen musste, um sie nicht zu sehr an den Hunger zu gewöhnen. Man entschied, dass Leonie morgens ein halbes Glas Kakao bekam und Abends eine halbe Banane und Mineralwasser. Im Laufe des Aufenthaltes wurden die Essenspläne immer wieder den jeweiligen Esssituationen angepasst und verändert. Der Austausch zwischen den Therapeuten und mir war da sehr wichtig. Ich besorgte die nötigen Lebensmittel (wenn nicht im Hause vorrätig) selbst und bekam das Geld von der Klinik. In den Logopädie Stunden versuchte man, Leonie Lebensmittel näher zu bringen. So stach sie mit Förmchen kleine Fische aus Brot aus, sauste mit kleinen Plastikfiguren durch Joghurt und musste diese dann wieder waschen. Es war erstaunlich zu beobachten, wie Leonie die Scheu verlor. Im Lauf der Zeit fasste sie verschiedene Lebensmittel an. Bei der Ergotherapeutin merkte man schnell, dass sie sehr gut Kontakt zu Leonie herstellen kann und dass man dies nutzen musste. So machte Leonie zwar etliche ergotherapeutische Übungen, aber die Arbeit mit Essen wurde immer wichtiger. So haben die beiden (ohne mich) zusammen Obstsalat gemacht. Leonie hat sich natürlich gleich die Banane geschnappt, aber sie hat das andere Obst geschnitten. Was dann in den nächsten Wochen passierte, ist für mich immer noch phantastisch. Leonie isst gerne Schokolade und Bananen, also wurde das kombiniert. Die Ergotherapeutin hat zu sammen mit Leonie Schokolade geschmolzen und Bananenstücke damit überzogen und gegessen. Zur Banane gesellten sich Apfelstücke. Auch  diese hat sie gegessen. Später wurde die Banane durch Brot ersetzt. Ganz bewusst hat man Leonie das Brot gezeigt und dann in die Schokolade getaucht (ich habe das alles hinter einer Glasscheibe beobachtet, ohne dass Leonie das wusste). Sie lehnte diese zuerst ab, aber dann nach etwa 2 Wochen hat sie zum ersten Mal in ihrem Leben Brot gegessen. Es war unglaublich. Nach und nach wurde das Brot ohne Kruste zuerst in die Schokolade getaucht und dann nur noch mit Schokolade beträufelt, so dass eindeutig zu erkennen war, was Leonie da isst.
NutellabrotAm 22.02., also nach knapp drei Wochen Klinikaufenthalt hat Leonie die erste Scheibe Nutellabrot gegessen. Für mich war Ostern, Weihnachten und alle anderen Feiertage gleichzeitig! Ich werde diesen Moment niemals in meinem Leben vergessen. Leonie war so stolz auf sich und ich weinte hinter der Glasscheibe vor Glück. Selbst unser Arzt hätte nicht gedacht, dass Leonie solche Fortschritte macht. Aber Leonie ist immer wieder für eine Überraschung gut. Neben der Arbeit mit der Ergotherapeutin war aber auch die Logopädin erfolgreich. Wir boten Leonie Quark mit Haferflocken an. Zuerst wollte sie nicht, aber ich habe sie dann mit einer Tüte Capri Sonne gelockt. Leonie bekam ansonsten nur Mineralwasser zu trinken und so war das natürlich auch für Leonie verlockend. Und tatsächlich entschied sie sich dafür, mal das Neue zu probieren und auch aufzuessen und bekam dann als Belohnung das versprochene Getränk. Wir variierten den Quark dann noch etwas. Ich besorgte andere Sorten mit anderen Geschmacksrichtungen. Leonie war jetzt dazu bereit. Wir hatten auf allen Ebenen Erfolge zu verzeichnen. Beim Mittagessen gab es Tomatensuppe in allen Variationen, mit und ohne Stücke, gedrückte Kartoffeln usw. Vieles konnten wir mit Hilfe der Belohnungsschiene erreichen. Aber mir war klar, dass es schwierig werden würde, dies zu Hause auch umzusetzen. Nach 4 Wochen Klinikaufenthalt kehrten wir nach Hause zurück. Leonie hat ihr Nutellabrot gegessen und verschiedene Quarksorten oder Joghurt mit Haferflocken. Zu Mittag gab es Tomatensuppe mit verschiedenen Geschmacksvarianten. Wir waren mit dem Ergebnis zufrieden.
SalamibrotNun ist wieder etwa ein Jahr vergangen. Wir haben weitere Fortschritte, aber auch Rückschläge zu verzeichnen. Leonie isst nun Brot mit verschiedenen Käsesorten, Salami, Kochschinken und Nutella. Banane, Apfel oder auch Birne (geht ebenfalls als Apfel durch) gibt es als Zwischenmahlzeit. Allerdings haben wir beim Mittagessen immer noch große Probleme. Sie isst nur noch selten Tomatensuppe und irgendwie treten wir hier auf der Stelle. Es ist sehr schwierig bei einem vollen Kühlschrank mit Belohnung zu arbeiten und die Hungerschiene funktioniert hier auch nicht. Aber wir bleiben am Ball. Letzte Woche half Leonie mir beim Kuchenbacken und hat dabei den Teig geleckt. Den Kuchen hat sie zwar verschmäht, aber es war ein Erfolg. Und so sehen wir das nun auch. 
Dieses Jahr fahren wir wieder in Urlaub und wir werden das erste Mal ohne zusätzliche Essensvorräte für Leonie fliegen. Wir haben schließlich all inclusive gebucht. Vielleicht macht  es Leonie dieses Mal Spaß, am Büffet ihr Essen auszusuchen. Wir sind optimistisch, dass Leonie auch irgendwann normales Mittagessen isst. Natürlich würde ich mit dem heutigen Wissen einiges anders machen und die Esstherapie viel früher in Angriff nehmen. Ich kann die Kinderklinik in Maulbronn nur empfehlen. Die 4 Wochen waren nicht einfach, doch der Erfolg war und ist da.
Wir benutzen Cookies
Wir nutzen Cookies auf unserer Seite, um externe Inhalte, wie Vereinskalender, Videos und Fotos anzeigen zu können. Die Cookies sind essentiell für diese Inhalte. Die restlichen Inhalte können sie selbstverständlich auch ohne Cookies betrachten. Wir verwenden keinerlei Marketing oder Tracking Cookies.